Himbeertorte im Winter

Himbeertorte im Winter

Vor der kleinen Bäckerei an der Ecke Spitalstraße / Gartenweg bildete sich eine

Menschentraube. Stimmengewirr drang durch die eisige Luft. Einige Schneeflocken wirbelten herum und setzten sich keck auf die Mützen und Hüte. Erna Guckenheim stützte sich auf ihren Gehstock und sagte zu der Gruppe „Mit Isabella Wolfing aus dem Gartenweg stimmt etwas nicht. Gestern war sie in der Bäckerei und hat zwei Stück Himbeertorte gekauft. Himbeertorte im Winter, mit extra Sahne und gleich zwei Stück. Die Bäckersfrau hat es mir erzählt. Isabella, die Sparsame ist verrückt geworden. Das war ja zu erwarten, so einsam und armselig, wie sie lebt“.

Isabella lauschte am offenen Fenster und lächelte. Sie hörte nur Wortfetzen, den Rest reimte sie sich zusammen.

Isabellas Leben war unauffällig und leise. Doch wenn sie vor ihrem Kleiderschrank stand, die rosafarbene Federboa umlegte, sang und tanzte sie, so wie damals. Die Musik erklang in ihrem Herzen. Glückliche Jahre lagen hinter ihr voller Sorglosigkeit oder war es Dummheit? Erfolg und Ruhm hatte sie genossen. Ihre Gage war nicht immer üppig. Doch ihr Erfolg entschädigte sie für das unstete Künstlerleben.

Das Alter traf sie mit Wucht. Armut, Einsamkeit, Entbehrung, darauf war sie nicht vorbereitet. Ihre große Liebe, ihr Freund und Partner Friedrich, verschwand so gnadenlos und unvermittelt aus ihrem Leben, das ihr noch heute, zwanzig Jahre später, der Atem stockte. Gemeinsam tourten sie von Varieté zu Varieté, hier eine Revue, dort eine Show. Berlin, Hamburg, Frankfurt, Paris, Lissabon und New York. Seite an Seite, traten sie auf, tanzten, sangen und bildeten ein unzertrennliches Team. Lange war es her. Nach all dem Glanz und Erfolg blieb für sie nur die Erinnerung und der imposante Schrankkoffer, prall gefüllt mit all den bezaubernden Kleidern und Kinkerlitzchen. Anfangs bekam sie Soloauftritte, doch sie versprühten nicht den Zauber von einst. Sie mietete sich die Wohnung im Gartenweg und lebte bescheiden und zurückgezogen. Zwei Ereignisse ließen sie Woche für Woche leuchten. Jeden Freitag, der Gang zum Lottoladen neben der kleinen Bäckerei und ihre private Show Samstagabends, vor der Lottoziehung. Sie stellte sich vor, reich zu sein, eine eigene Revue zu haben, Künstler einzustellen, Publikum zu begrüßen, zu tanzen und zu singen. Sie trug ihre Kostüme, den Schmuck und die Perücken mit Eleganz, schminkte sich, hörte Musikaufnahmen und tauchte ab in eine andere Welt. Manchmal, oder eher oft, vergaß sie darüber die Zeit und verbrachte eine Nacht voller Zauber und Glanz. Sie nahm den alten Lottoschein freitags mit in den Laden und hin und wieder gab es kleinere Gewinne, die halfen den wöchentlichen Spieleinsatz zu finanzieren. Isabellas Geld war knapp und oft stand sie vor der Bäckerei, schaute die Torten an und schwankte zwischen Kuchen und Lottoschein. Der kleine Hoffnungsschimmer bedeutete ihr unendlich viel. Doch seit gestern war alles anders und sie aß Himbeertorte.

Isabella kochte sich eine Kanne Tee und sah, wie sich die kleine Gruppe vor der Bäckerei langsam auflöste. Olga Zack schloss, die Tür vom Lottoladen ab und schaute mit einem wissenden und zufriedenen Lächeln in Richtung Isabellas Fenster. Isabella öffnete die Scheibe und die beiden winkten sich zu. Frau Guckenheim bekam vor Staunen, den Mund nicht mehr zu „Hier stimmt etwas nicht“ rief sie ihren Nachbarn hinterher. Eine Stunde später klingelte Frau Zack, mit zwei großen Tüten bepackt, bei Isabella. Sie jauchzte „Ich habe alles für unsere Feier eingekauft.“ Gestern im Lottoladen hatte sich etwas zugetragen, was die Fremdheit die zwischen den beiden Frauen gestanden hatte, von einer Sekunde auf die andere weggeblasen hatte. Seit vielen Jahren wechselten sie nur wenige Worte, das notwendigste, um immer das Gleiche abzuwickeln. Nur am gestrigen Tag, da war es anders. Es war ein weiterer Kunde im Laden, als Frau Zack Isabellas Lottoschein aus der letzten Woche überprüfte. Auf vielen Zeitungen war groß die Schlagzeile gedruckt „6 Millionen gewonnen, aber noch immer hat sich niemand gemeldet“. Herr Meiermann nahm eine der Zeitungen, legte das abgezählte Geld auf den Tressen und verließ den Laden. Er war in Gedanken versunken und bemerkte nicht, dass sich die Gesichtsfarbe der Ladenbesitzerin dunkelrot verfärbt hatte. Olga Zack eilte zur Ladentür, schloss sie hinter ihm ab und drehte das Schild von „Offen“ auf „Geschlossen“ und das, obwohl Isabella im Geschäft war. Was sich zwischen den Frauen abspielte, lässt sich nur erahnen, Isabella blieb eine Stunde und spazierte dann geradewegs in die Bäckerei, um den besagten Kuchen zu kaufen.

Rike

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